Freitag, 25. Mai 2007

Dreckige Fünfzig

P. hat eine neue Freundin. Und das meine ich ironisch, weil er sie „seit irgendwann im Herbst“ hat, was in meinen Augen nicht neu, sondern mehr als alt ist – und auch das ist ironisch gemeint, weil seine neue Freundin 24 Jahre älter ist als ich. Der hoffentlich mitdenkende und Zusammenhänge begreifende Leser hat jetzt vielleicht geschnallt, dass P. auch um einiges älter als ich gewesen sein muss, wenn er mit seiner Neuen nicht gerade einen Mutter-Komplex auslebt, den er aber nicht hat – nur, wenn sie ihn nervt, also eigentlich immer, aber das ist hier nicht das Thema, auch nicht unser Altersunterschied. Es geht darum, dass er eine neue Freundin hat. Das zerstört meinen Glauben an Gott, an die Schwerkraft und an Dieter Bohlen – in genau dieser Reihenfolge. Mein Glaube wäre vielleicht nicht so erschüttert, wenn die Dinge umgekehrt wären, also Dieter Bohlen alleine und ich in der Jury von „Deutschland sucht den Superstar“, aber so ist es nicht, denn P. hat eine neue Freundin, ich bin allein und Dieter Bohlen darf noch immer schlecht singende Hupfdohlen zur Sau machen und ich nicht.

Ich will mich nicht damit rühmen, dass ich damals, an diesem heißen Tag im Juni, zu P. sagte, dass er nicht meine Zukunft ist. Ganz im Gegenteil: Es hat mir das Herz gebrochen, als ich ihn das letzte Mal umarmte und er in den Zug stieg, damals, als die Sonne in dieser piefigen Kleinstadt unterging, in der wir uns bei Bier und Dorfmief das letzte Mal in die Augen sahen. Es geht darum, dass ich diejenige war, die ausgesprochen hat, dass es kein UNS mehr gibt, aber er derjenige ist, der ein neues UNS gefunden hat, während ich einfach nur ICH bin.

An irgendeinem mittelschweren Sonntag ein halbes Jahr danach, es mag auch Samstag gewesen sein, telefonierte ich mit P. Schon Wochen zuvor hatte ich überlegt, ihn zu fragen, ob es jemanden in seinem Leben gibt, aber davor gescheut. Es geht mich einfach nichts an. Aber an diesem Tag war meine Zunge gelöst und meine Neugier groß, also fragte ich – und erfuhr von seiner neuen Freundin. Meine erste Reaktion war genau so, wie P. mich kennt. Unverschämt, unumwunden, ungemein witzig. „Du bist alt, du bist dick, du bist hässlich – warum hast du eine Beziehung und ich nicht?“ fragte ich, und er lachte sein vertrautes Lachen und kostete den Moment aus, in dem ich ein kleines bisschen neidisch, eifersüchtig und erstaunt war und er sich ein kleines bisschen freute.

Ich gönne ihm sein Glück von Herzen. Es war keine Floskel, als ich sagte: „Lass uns Freunde bleiben“. Ich habe es so gemeint, weil meine Liebe zu ihm nie aufhörte. Sie hat sich nur verändert. Es gibt Menschen, die sind sich so vertraut, dass jede Geste vorhersehbar, jeder Gedanke vom anderen gedacht wird, und solche Menschen waren wir. Sind wir. Irgendwann in den fünfeinhalb Jahren unserer Beziehung wurden wir Freunde und merkten nicht, dass das alles war, was uns ausmachte. Eine liebevolle Freundschaft, aber keine leidenschaftliche Liebe.

Und trotzdem ist es so, dass es nicht fair ist. Wie kann ein Mann mich so schnell überwinden? Ich finde, ein Jahr Trauerzeit ist absolut angemessen. Zwölf Monate schwarze Kleidung, tränenschwere Komm-zu-mir-zurück-Anrufe und bierselige Nachrichten auf der Mailbox, für die man sich am Tag danach das Leben nehmen will. SO sieht eine Trennung aus. Es ist doch so: Wer drei Monate nach einer Trennung die nächste Beziehung anfängt, ist ein Schwein und hat nie richtig geliebt. Wer nicht bei dreikommaneun Promille vor meinem Foto sitzt, Suizidgedanken hat und bei „Kuschelrock 59“ bitterliche Tränen weint, hat mich nicht richtig geliebt. Jeder meint, er wäre unvergesslich. Aber ich bin es wirklich – fragen sie P.!

Letztes Wochenende in glühend heißer Sonne. Ich hadere mit meinem Kater, meine Schwester ist nach einem Bier betrunken. Ein Kellner baggert sie an, sie schäkert mit ihm. Als er weggeht, sagt sie promilleleicht: „Eigentlich ist er dein Beuteschema. Er ist alt, dick und hässlich“, und lacht sich kaputt. Ich lachte mit und erzähle, dass die neue Freundin von P. 53 ist, und sie, sie lacht wieder. Mit einem Knoten in der Zunge verdreht sie Buchstaben und versucht zu wiederholen, was ich sagte: „Was? Sie ist dreckige Fünfzig?“

Insgeheim finde ich das lustig. Ziemlich sogar. Weil es nur menschlich ist, dass man ein klitzekleines bisschen über die Neue lästert. Weil ich mich ein wenig darüber gefreut habe, dass jemand anderes etwas Gemeines über seine Neue sagte. Weil sie jetzt all das hat, was ich doch ziemlich vermisse. Zum Beispiel einen Mann neben sich auf der Couch, der mit glänzenden Augen „Deutschland sucht den Superstar“ guckt und ihr auf die dreckigen Fünfziger-Schenkel haut, wenn Dieter Bohlen einen Kalauer aus der Solarium gebräunten Nase rotzt. Weil ich nur mir auf meine dreckigen Dreißiger-Schenkel haue. So fest, dass blaue Flecken bleiben, die aber niemand sieht, vor allem nicht P.

Das hier ist nur für dich, P.
Weil ich mich wirklich für dich freue.
Und Dieter Bohlen sicher auch.

Mittwoch, 16. Mai 2007

Selber, du Drecksstück!

„Was machen wir zu unserem Jahrestag?“, fragt mich J. mit rauchiger Stimme, und ich muss lachen, weil Jahrestage eigentlich pubertierenden Teenie-Pärchen oder Sweet Sixteen-Freundinnen vorbehalten sind, die sich auf Diddl-Postkarten versichern, wie mega doll sie sich lieb haben und noch nicht ahnen, dass ihre Freundschaft wahrscheinlich zerbrechen wird, am Älter werden, am Wachsen und Reifen, am über sich Hinaus wachsen, an den Jahren, die alles verändern. Eigentlich. Aber es gibt Augenblicke, da muss man sich der Süße der vergangenen Zeiten stellen, der Leichtigkeit, der Unbeschwertheit, dem nicht greifbaren Wahnsinn. Also lasse ich es zu und diesen Irrsinn in mein Herz.

„Wie wäre es mit kollektivem Selbstmord?“, frage ich und meine es ein kleines bisschen ernst, weder wahn-, noch irrsinnig, aber J. verlacht glucksend meinen Vorschlag und sagt: „In drei Jahren, Schatz, denn wir sterben nicht in drei Tagen, sondern in drei Jahren“, und ich, ich muss wieder lachen und schweige rauchend, obwohl ich die Frage meiner Ärztin im Kopf habe, ob ich selbstmordgefährdet bin und mein Zaudern und Zögern daraufhin spüre. Hirngespinste. Bin ich?

„Wir lassen uns tätowieren“, sagt J. begeistert und verwischt meine Hirnfürze, genauso wie sie damals sagte: „Wir beide lassen uns ein Intim-Piercing stechen“, unlängst im November, als wir uns das erste Mal sehen wollten, aber die Dämonen meiner Seele mich nicht zu ihr ließen und sie nun alleine da steht, mit dem rot-schimmernden Strassstein in der Mitte ihres Körpers, der im Kerzenschein weder lasziv, noch billig scheint, nur purpur und leuchtend wie das Lachen von J.

„Ein Symbol für die Ewigkeit“, meint J., „genau das ist es. Im Nacken, tätowiert für die Ewigkeit“, und ich nicke, aber das kann sie am Telefon nicht sehen, also sage ich ein bisschen abgedroschen: „Ja, wir beide für die Ewigkeit“ und bin ein bisschen traurig. Nicht, weil es wie eine Floskel klingt, sondern weil es wahr ist.

„Du weißt, ich würde mich um deine Tochter kümmern“, sage ich bierselig und denke an unser Telefonat vor ein paar Tagen, als ich sie fragte: „Was machst du mit K., wenn du stirbst?“ Und sie sagte trocken und tränenlos: „Keine Ahnung, aber weißt du was? Ich würde nur L. zutrauen, sie großzuziehen, aber die ist erst 16“, und ich denke an Sweet Sixteen-Freundinnen und deren Leichtigkeit, die die Realität so schwer macht.

„Heut Abend betrink ich mich“, sagt J. feixend, „aber vorher besorg ich mir Schmerztabletten, sonst geht das nicht.“ Ich schlucke und würde gern sagen: Tu das nicht. Leg dich hin. Pass auf dich auf. Aber ich weiß: Sie will das nicht hören. Sie braucht mich für etwas anderes.
„Lass es krachen“, höre ich mich sagen, „hab Spaß, sei gut zu dir – und ruf mich an, hörst du? Wenn du trinkst, dann nur mit mir“, murmle ich und meine es ernst. Ich muss aufpassen, denke ich, dass sie keinen Blödsinn macht. That’s my job, you know?

Ich habe vergessen, wann ich das letzte Mal geweint habe, bis auf die zarten Tränen vorgestern, als ich das tote Rehkitz im Fernsehen sah. Wann? Warum habe ich meine Tränen vergessen? Und warum habe ich noch nie wegen J. geweint?

„Vorsicht, K., du tust mir weh“, sagte J. gestern, als wir telefonierten und ihre Tochter mit ihr kuscheln wollte. „Mama hat Schmerzen“, hörte ich sie hohlhörig, als sie ihr kleines Mädchen bat, sich nicht auf sie zu legen. „Fiese Gliederschmerzen“, meinte sie danach zu mir, als K. im Bett lag und J. sich mit Rotwein und einem Joint entspannte, um die Schmerzen wegzubeamen.

Vielleicht braucht J. meine Tränen nicht. Vielleicht, weil sie keine Tränen nötig hat, die stolze, schwarze Katze mit den geschmeidigen Augen, die allem trotzt, vor allem dem Tod.

„Du bist geistesgestört“, sage ich trocken.
„Selber, du Drecksstück“, lacht sie, und ich spüre Wärme in meinem Herzen, gleißend und innig.

„Zu dritt verboten“

Zu-dritt-verbotenVorübergehend geschlossen, steht auf dem Schild, das ich an mein Herz nagle. Zutritt verboten, und ich lache, obwohl es nichts zu lachen gibt. Früher, als das Schild noch nicht an meinem Herzen baumelte, da saß ich unter mit Stuck verzierten Decken und starrte auf dünnblättrige Bücher, und unten, an den Säulen aus Marmor, da stand „Zutritt verboten“, in dicken Buchstaben und mit Ausrufezeichen. „Zu dritt verboten“ hatte ein kecker Student in feinsinniger Schlüpfrigkeit daraus gemacht, der vielleicht von Liebe zu dritt träumte, aber zu schüchtern dafür war.

Vorübergehend geschlossen, sagt mein Herz, und hört nicht auf – mich – zu schlagen. Stiche wie feine Peitschenhiebe flimmern im Stakkato, die Luft ist zum Schneiden in meiner linken Herzkammer. Schmerzen in Scheiben? An meinen eigenen Ecken lauf ich mir blaue Flecken. Zart purpur und blass lila, mit Stich ins Grüne und Striemen und Streifen. I bruise easily, geht mir eine Melodie durch den Kopf, dabei war das nicht immer so.

Vorübergehend geschlossen, trotzt mein Herz, und trägt seine Nase eisern hoch, so hoch wie mein Stolz, der irgendwann da oben war und nun kümmerlich und kläglich in der Ecke da drüben verpufft. Warum muss man sich Stolz leisten können? Vielleicht hätte ich sagen müssen, dass mein Herz eine Einbahnstraßensackgasse ist, ein One-Way-Ticket mit point of no return. In dicken Buchstaben und mit Ausrufezeichen, so wie das Schild damals an den Säulen aus Mamor: „Zu dritt verboten“.

Montag, 14. Mai 2007

Wann schreibst du wieder was?

J. hat sich eingenistet in meine Geschichten. „Wann schreibst du wieder was?“ fragt sie gestern um kurz nach Mitternacht. „Wann schreibst du wieder was?“ schreibt sie heute Morgen um neun. „Wann schreibst du wieder was?“, will sie am Nachmittag wissen, während sie nebenbei ins Leere tippt. Ich warte, bis die Straßenbahn unter meinem Fenster vorbeigefahren ist, lache leise und tippe selbst ins Leere: „Eine gute Geschichte muss mich finden, nicht ich sie“, sage ich und ziehe an meiner Zigarette. „Außerdem kann ich nicht immer über dich schreiben“, murmle ich, „das langweilt die paar Leser, die bei mir vorbei schauen.“ – „Warum nicht?“ fragt sie, und ich denke: „Warum eigentlich wirklich nicht?“

Ich schreibe gerne über sie, weil sie viele Geschichten erzählt, auch wenn sie die wenigsten davon ausspricht. Ich mag Geschichten, und besonders ihre. Sie handeln von verlorenen geglaubten Träumen und gefundenen Sehnsüchten, von verlassenen Menschen und entdeckten Freunden, von absurden Ideen und abstrusen Hirngespinsten. „Du bist geistesgestört“, sage ich ihr mindestens ein Mal am Tag, und sie lacht ihr hohles Katzenlachen und erwidert feixend: „Selber, du Drecksstück!“.

„Ich werde die Urnen meiner Großeltern ausbuddeln“, sagt sie gestern und kichert hell wie ihre 6-jährige Tochter, die meistens zu mir sagt: „Mama schläft, aber ich kann mit dir reden. Was gibt es Neues?“ Sie fragt wie eine Erwachsene, und das ist sie wahrscheinlich auch, dieses kleine Mädchen mit dem großen Verstand, das mir am Telefon sagte, was sie traurig macht, ehe ich sie erstmals durch die Luft wirbeln konnte, damals an dem Freitag im Westen, als sie mich mit fragenden Augen kennen lernte.

„Dafür gibt’s bis zu drei Jahre Gefängnis“, sagt ihr bester Freund im Hintergrund, „Grabschändung wird hart bestraft“, aber J. wischt seine Bedenken fort wie ein Staubkorn. „Für Romantik gehe ich ins Gefängnis, und ich will dass meine Oma und mein Opa zusammen sind.“ J. scheut keine Risiken, wozu auch? Wenn sie brennt, dann richtig, lichterloh und lustig lachend. Konsequenzen sind ihr egal, und die Urne ihrer Oma hat sie schon einmal ausgebuddelt, damals, als sie neunzehn war und solch süße Sehnsucht verspürte, nach der Oma, die mehr Mutter war und der sie nah sein wollte, damals an dem Herbsttag mit den verregneten Stunden. Ihre Mutter, eine große Frau mit kaltem Herzen, war es damals, die sagte: „Grab sie wieder ein!“, und J. hörte auf sie, eines der wenigen Male, dass ihre Mutter siegte. „Ob mein Opa noch da unten ist?“ fragt J. mich, und ich kann es ihr nicht sagen, wer weiß schon, ob eine Urne 42 Jahre lang gegen die Verwesung ankämpft?

J. ist wie Granit, hart, vielschichtig und grau-schimmernd bis unter die Haut. Sie verabscheut Lügen, ob dick oder dünn. „Lieber eine Wahrheit, die weh tut, als eine Lüge, die rauskommt“, sagt sie und selektiert chancenlos. Sie wirft Menschen aus ihrem Leben, ohne ihnen nachzuweinen, einfach so, und manchmal habe ich Angst, dass ich auch gehen muss, irgendwann in naher Ferne – und sein muss ohne sie und ihre Geschichten von verlorenen geglaubten Träumen und gefundenen Sehnsüchten.

Ich habe wieder über J. geschrieben. Und ich werde es noch mal tun. Bleiben Sie trotzdem im Niemandsland?

Drei Mal an der Bar

1.
Meine Freundin J. und ich an der Bar. Unser Blick ist zwar glasig, aber unser Verstand noch scharf. Ein nichts sagender, aber alles labernder Typ in durchgesessenen Jeans versucht, sich in Szene zu setzen. Rutscht auf seinem Barhocker immer weiter nach rechts, bis sein Oberschenkel meinen streift und ich ihm nur noch die Nase brechen will. Biergeschwängerte Worte, die seine Vorzüge anpreisen sollen, keines davon will ich hören. Beendet seinen Redefluss mit „Weißt du, ich bin ein Realist“. Ich hebe eine Augenbraue und sage: „Warum sitzt du dann noch neben mir?“

2.
Meine Schwester M. und ich an der Bar. Drängen uns durch Menschen mit Schweißflecken und ordern lauwarmes Bier. Der Typ neben ihr, der sich viel zu eng an sie drängt und den kahl geschorenen Kopf debil im House-Rhythmus bewegt, bezahlt seines, nimmt das Wechselgeld, redet mit jemandem. Verharrt in der Bewegung und versperrt uns die Bar. Labernd, mit ausgestreckter Hand und Kleingeld auf der offenen Handfläche. Meine Schwester greift beherzt zu. Da regt sich der Typ aus seiner Trance und brüllt in Proll-Berlinerisch: „Alte, haste den Arsch offen?“ Meine Schwester zuckt die Achseln und sagt emotionslos: „Nein, aber du die Hand.“

3.
Meine Freundin B. und ich an der Bar. Neben uns zwei Anzugträger, ein bisschen zu glatt, ein bisschen zu rasiert. Der eine mit den braunen Locken und den buschigen Augenbrauen summt die Fahrstuhlmusik im Hintergrund mit und lässt seinen Scotch-Nebel-Blick über die roten Plüschsessel der Bar gleiten, er bleibt an meinen blonden Locken hängen. Lächelt breit, ein wenig dümmlich, wahrscheinlich mag er Frank Sinatra, liest Paulo Coelho und sammelt Miniatur-Ferraris. Er schiebt sich ein paar Meter an der Bar zu mir, mustert mich von oben bis unten. Haucht die Anmachplattitüde „Na?“ und wartet tatsächlich auf Antwort. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und lasse ihn reden. Er sagt „mega“ und „oder so“ und schließt mit „Weißt du, ich steh voll auf Persönlichkeit und so.“ Ich stehe auf und sage: „Dann leg dir doch eine zu!“

Sonntag, 13. Mai 2007

Im Zwischenraum seiner Worte

Im-Zwischenraum-seiner-WorteIm Zwischenraum seiner Worte verbringt sie die Nacht. Bettet sich unter die Zeilen, deckt sich mit Satzzeichen zu, nur das Komma da drüben, das drückt ihr ein wenig ins Kreuz. Seine Sätze sind aus Seide, die Worte daunenleicht, und manchmal, da tummeln sich Eismänner zwischendrin.

Er schreibt auf leichten Füßen, energisch und engelsgleich, seine Sätze haben keinen Reißverschluss. Über die Treppe der vergessenen Worte tippt er sich großherzig und großbuchstabig nach oben, dort, wo die Tür zu ihrem Herzen ist. Manchmal bastelt er aus Buchstaben Traurigkeit, die ganz sanft durch die Sätze tanzt, süß und schwerelos.

Seine Worte sind ein Irrgarten, aus dem man nicht mehr raus will, weil sein Augenzwinkern einen umschlingt. Seine Geschichten haben oft kein Ende, vor allem kein glückliches, aber meist steht da ein Lachen irgendwo und verwischt die Schwermütigkeit.

Er schreibt nicht vollkommen, aber vollmundig und verführerisch. Seine Worte verneigen sich und fordern zum Tanz auf, zu Buchstabenmusik und Wortmelodie, nicht im Dreivierteltakt, seine Töne sind nicht von dieser Welt.

Wenn er verstummt, schwirren seine Worte dennoch durch den Raum, wie kleine Staubkörner, die in der Sonne tanzen und die man nicht fassen kann. Er ist immer da, unausgesprochen vielleicht, aber unauslöschlich, der Zauber seines Märchenwortlandes hat sie längst schon verhext.

Im Zwischenraum seiner Worte verbringt sie die Nacht.

Gute Nacht.

Liebe ist fürn Arsch

Liebe-ist-fuern-ArschDas Ringen um Worte macht heute keinen Spaß. Ich krieg sie nicht zusammen, sie verstecken sich feixend vor mir und wollen keine Sätze bilden. Verzogene Gören, denke ich, undankbares Pack. Und das am Muttertag.

Ein langer Tag, und irgendwie unvollständig. Auf den Fließen in der Küche sehe ich Schattenspiele, ich glaube, die Sonne scheint, aber ich war noch nicht auf dem Balkon. Nur nachts, als um vier Uhr meine Träume mich wecken, da laufe ich barfuß und gedankenschwer raus und starre in die lautlose Dunkelheit. Die schlafen alle, denke ich verwundert, obwohl es eigentlich nicht verwunderlich ist, um vier Uhr morgens in der Großstadt. Zurück ins Bett, aber zu wach, um einzuschlafen und zu müde, um aufzustehen. Das rechte Kissen ist zu weich, das linke Kissen zu weit weg, und irgendwo gegenüber geht ein Licht an. Vielleicht jemand, der am Sonntag um halb fünf zerfeiert nach Hause kommt und nicht den Samstag Abend im gestreiften Pyjama auf der Couch verbringt, wer weiß. Vielleicht jemand mit einer schwachen Blase. Ich werd’s wohl nie wissen.

Um halb sechs läutet das Telefon und ich wundere mich nicht. „Ich glaub, ich hab mit meinem Chef rumgemacht. Hab ich mit meinem Chef rumgemacht?“ ruft J. weißweinschwer in den Hörer, und ich lache. „Geh ins Bett, wir telefonieren später“, sage ich und ziehe auf die Couch um. Mein Körper schläft, aber mein Verstand ist wach, ich zappe mich durchs morgendliche Kinder-Fernsehen und schweife ab. Ich denke an Emma, viel mehr als ich will, und der Tag hat erst begonnen, unvollständig zu sein.

Ich drifte weg, schrecke hoch, es ist mittags. Wieder klingelt das Telefon, wieder J. und ihre weißweinschwere Stimme. „Bier her, Bier her, oder ich fall um,“ singt sie in den Hörer, und wieder lache ich. Sie ist sich nicht sicher, ob es richtig war, mit ihrem Chef rumzumachen, aber ich beruhige sie. „Du lebst nur einmal“, sage ich, und beide wissen wir, dass es vielleicht weniger sein wird.

Mit müden Gliedern starre ich auf den Fernseher. Zwei Rehkitze hüpfen durch eine Wiese, doch eines der beiden stirbt, und ich weine ein bisschen. Mein Handy brummt. „Liebe ist fürn Arsch!“ schreibt meine Lieblingskollegin H., die sich in einen Mann mit Freundin verliebt hat, was die Liebe fürn Arsch macht, wie es scheint.

Ich habe heute keine Geschichte zu erzählen. Und das am Muttertag.

Samstag, 12. Mai 2007

J. ruft jeden Tag an.

„Was machst du?“ fragt sie.
„Ich liege im Bett und schaue aus dem Fenster. Und du?“
„Ich kiffe.“


Es ist Nachmittag und die Sonne tanzt auf den Dielen, ich höre J. atmen. Vielleicht trägt sie ihre weiße Gemütlich-Hose und versucht unschuldig zu sein, vielleicht hat sie’s auch aufgegeben. J. kann nicht unschuldig sein, obwohl sie es gerne wäre, nicht für sich, aber für den Mann, den sie liebt, der irgendwann sagte, sie solle unschuldig sein. Sie hat es versucht, übte einen unschuldigen Augenaufschlag vor dem Spiegel und trug eine Woche weiße Klamotten, doch es hat nicht funktioniert. Deshalb wartet sie jetzt in schwarzen, tief ausgeschnittenen Tops darauf, dass er anruft, da sieht er sowieso nicht, ob sie unschuldig schaut.

Es war im September, als ich J. eine Liebesgeschichte erzählte, von einem Mädchen, das einen Mann liebte, und einem Mann, der das Mädchen auch liebte. Er liebte aber anders als das Mädchen, deshalb liebte er eigentlich doch nicht, und das Mädchen, das gab auf und zog in ein anderes Land. Wer will schon ein Happy-end? Das Mädchen vielleicht, aber vielleicht auch nicht, und vielleicht ist sie heute froh, dass er sie nicht liebte und sie fort ging. „Zum Abschied sagte sie ihm, dass sie ihn liebt, und er schob mit seinem Ringfinger die Brille auf seine Nase und sagte: Ich liebe dich auch“, erzählte ich J., und sie sagte nichts. Aber am Tag danach schrieb sie dem Mann, den sie liebt, dass sie ihn liebt, und da sagte er nichts.

J. ist nicht meine beste Freundin. Sie ist ein Teil von mir. Wo ich einatme, atmet sie aus, wo ich suche, da wird sie fündig. Eines Tages war sie da und ist ganz einfach geblieben, als wäre es selbstverständlich, dass sie bleibt. Und es ist selbstverständlich, schließlich ist sie ein Teil von mir. Ich kenne die Farben ihrer Augen, und obwohl das so banal ist, ist es J. wichtig. Ich weiß, dass sie silbernen Schmuck nicht mag und wo ich ihr Testament finde, ich weiß, wen sie vögeln will und dass ihr Psychiater sie „notorisches Luxusweibchen“ nennt. Sie weiß, dass ich nicht schlafen kann und gerne Junkfood esse, sie weiß, wen ich liebe und dass ich seit einem Jahr ungevögelt bin. Und wenn ich „Ich will mir die Arme aufschlitzen sage“, dann antwortet sie „Schatz, kein Problem, ich wetz schon mal die Messer!“, und ich lache wieder glockenhell und weiß: Sie ist ein Teil von mir.

Früher, da trafen wir uns jeden Abend am Telefon und heulten miteinander den Mond an. „Ich bin verabredet“, sagten wir zu unseren Arbeitskollegen, gingen nach Hause, öffneten im Westen eine Flasche Wodka und im Süden eine Flasche Gin, und dann saßen wir uns gegenüber, den Hörer in der einen, das Glas in der anderen Hand. „Wenn wir so weiter machen, sind wir in drei Tagen tot“, sagte J. jeden Abend, und ich nippte an meinem Gin und sagte: „Na und?“ An den Tagen danach, wenn wir mit Alkohol-Atem und Augenringen aufwachten, da fragte sich jede von uns im Stillen, wie lange wir das durchhalten, aber wenn J. am Nachmittag anrief und mit ihrer dunklen Stimme „Schatz, was trinken wir heute?“ brüllte, überflutete Sonne mein Herz und ich betrog Gin mit Bier.

„Ich hatte gestern eine Flasche Wodka, ich glaube, ich muss kotzen“
„Ich muss gerade mal nicht kotzen.“


J. muss von ihren Medikamenten kotzen und will nicht darüber reden. Manchmal tun wir es doch. „Was würdest du tun, wenn dein Arzt dir sagt, du hast nur noch ein Jahr zu leben?“, frage ich, und J. lacht ihr dunkles Katzenlachen, das ein bisschen im Hals stecken bleibt, und sagt: „Das wird er mir bald sagen.“

„Was machst du?“ fragt sie.
„Ich liege im Bett und schaue aus dem Fenster. Und du?“
„Ich kiffe.“


Schweigen und tanzende Sonnenstrahlen.

„Weißt du, wir sagen uns immer dasselbe. Ich liege immer im Bett und schaue aus dem Fenster, und du kiffst immer. Darüber muss ich mal schreiben“.
„Bitte mach das. Sofort!“


Sofort habe ich es nicht gemacht. Zuerst musste ich noch ein wenig liegen und ein bisschen aus dem Fenster schauen. Aber jetzt habe ich darüber geschrieben. Nur für J.. Übrigens: Ihre Augen sind braun.

Donnerstag, 10. Mai 2007

Sieben Leben

Sie sagt, sie kann gar nicht so schnell laufen, dass ihr Ruf sie nicht überholt. Dort, in der Kleinstadt im Westen, wo man abends in den Straßen nie jemanden kennen lernt, weil man ohnehin schon alle kennt.

„Du bist doch die Ex von H.“ kommt ein Typ vorbei und grinst schmierig, während J. mit ihren viel zu stark geschminkten Augen trotzig seinem Blick standhält. Sie sieht aus wie eine schwarze Katze, dort oben auf dem Barhocker, mit den langen Beinen, dem stolzen Blick und dem geschmeidigen Lächeln. Kämpfen, sagt sie, hat sie früh gelernt. Damals, als ihre Mutter ihr sagte, dass sie J. nie gewollt hat. Damals, als das Gefühl anfing, nichts richtig zu machen. Damals, als die Leute über sie zu reden begannen.

„Warum ging denn das mit H. auseinander?“, fragt der Typ gierig und glaubt tatsächlich, dass J. ihm antwortet. Sie fixiert ihn lange mit ihren Katzenaugen, leert ihr Glas und bringt ihn mit nur einem Blick zum Schweigen. Er ist einer von vielen, der Fragen stellt, auf die sie keine Antworten mehr gibt, der in die nächste Bar gehen und dort über sie reden wird. „Stellt euch vor, ich hab die Ex von H. getroffen“, wird er sagen und sich Beifall heischend umsehen, die Begegnung ausschmücken, Sensationsgeilheit säen. Und dann werden sie reden und etwas ausgraben, auf dem die Erde längst vertrocknet ist, dort auf dem Friedhof in der Kleinstadt im Westen, wo in manchen Nächten eine Katze einsam wacht.

Sie sagt, es war übermächtig, damals, als sie in dieselbe Bar kam und seine Augen sah. Manche Menschen sind füreinander bestimmt, sagt sie, auch wenn sie sich dagegen wehren. Und sie hat sich gewehrt wie eine Katze, damals, als sie achtzehn war und das Leben schmecken wollte, als ob ihr nichts und niemand etwas anhaben kann. Damals, als sie nicht ahnte, wie schwer krank sie irgendwann sein würde und ihr Leben behandelte, als hätte sie sieben. Doch sie war verloren, als sie in seinen Pupillen den Glanz ihrer Augen sah und erkennen musste, dass sie fiel – und nicht auf den Beinen landete.

Sie durfte ihn nicht lieben, sagt sie, aber sie tat es trotzdem und nicht deswegen. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte sie in ihm ihr Schicksal, sagt sie, von dem sie weiß, dass sie damit alt wird; mit dem Schicksal, nicht mit ihm. Die Liebe war zu groß, um sich zu erfüllen, sagt sie, obwohl es lange gut ging, obwohl der Hass erst kam, als die Liebe noch größer wurde, damals, als er seine Frau verließ und J. ein Kind von ihm bekam. Vor ihrem Ruf kann sie sich nicht verstecken, sagt sie, aber sie hat gelernt, damit zu leben, sie hört nicht mehr hin, wenn irgendjemand sagt: „Schau mal, das ist die Ex von H.“

Eine Liebe kann vorbei gehen, obwohl man immer noch liebt, sagt sie, und obwohl sie erst 25 ist, hat sie den Blick einer alten Frau. Im März wurde ihre Tochter sechs, doch als sie fünf war, weinte sie viel. Wollte nachts nicht schlafen, sah sich lieber ein Foto ihres Vaters an, der nicht anrief, nicht vorbeikam. „Er vermisst mich nicht mal“, sagt sie, „ist das nicht traurig?“, und es gibt keine Worte, die man einer 5-Jährigen sagen kann, die einen Vater vermisst, der nie ein Vater war.

J. ist eine schwarze Katze mit geschmeidigen Augen, die von ihrem Schicksal überholt wird, dort in der Kleinstadt im Westen, in der nachts die Leute aus dem Fenster schauen und wissen, wer sie ist. Sie faucht, sie kämpft, sie beißt. Sie geht aufrecht, hält Blicken stand, wacht über die Nacht. Vielleicht hat sie doch sieben Leben. Sie hat sie verdient, sage ich.

Dienstag, 8. Mai 2007

Als Emma fort geht

Als-Emma-fortgehtAls Emma fort geht, ist der Himmel klar. Es riecht nach Sommer und nach einer Leichtigkeit, die schwer zu ertragen ist. Irgendwo da oben, im unendlichen Blau, das sie hinter den Mauern nicht sieht, erscheinen die Konturen des Mondes, der bald scheinen wird, nur wann?

Mit federnden Schritten geht sie weg, langsam, aber sicher im Schritt, ihr Körper funktioniert. Manchmal verharrt sie fast unmerklich in ihren Bewegungen, als überlege sie, umzudrehen, doch der Reflex schickt sie weiter, ihre Knie, Hüften, Beine, Gelenke arbeiten wie immer, spüren keine Veränderung, tragen und ertragen sie wie sonst auch.

Jede Stufe ist ein Schritt fort, jeder Meter ein kleiner Abschied, und plötzlich ist die Treppe ein Ort der Traurigkeit. Hohe Wände verschlucken trotz Hall ihre Schritte, zu wenig Raum für Tränen, obwohl ihre Tränen die Urin gelben Wände weiß waschen könnten. Weißer als ihr Gewissen, weiser als ihre Entscheidung, verwaist wie Emma. Die dicke Eichentür fällt ins Schloss.

Ihr Schritt auf die Straße hält die Welt an. Autos fahren in Zeitlupe vorbei und bleiben stehen. Ein Taxifahrer drückt wütend auf die Hupe, doch es ist nichts zu hören. Der schmallippige Student auf der anderen Straßenseite brüllt etwas in ihre Richtung, doch es bewegen sich nur Lippen, die Botschaft kommt nicht an. Die Geräusche der Großstadt sind verschluckt, die übliche Schnelllebigkeit versteckt sich hinter verspiegelten Sonnenbrillengläsern.

Sie geht, verharrt, zögert, bleibt stehen. Sucht ein Ziel, findet keines und geht trotzdem los. Das Wohin ist nicht wichtig, das Woher hat sie vergessen, das Warum will sie verdrängen, das Wie hat sie hinter sich. Sie sehnt sich nach Wind, der mit ihrem Haar spielt und vortäuscht, sie zu streicheln, der ihr die Lust nach Tränen aus dem Gesicht bläst und ihre Bitterkeit verweht. Wehe, Wind. Wehe, du weinst. Weh, es tut so weh.

Von Gedankenfetzen getragen spaziert sie über aufgerissenen Asphalt, in dem Ameisen und Kellerasseln scheinbar planlos ihr Ziel suchen. Es riecht noch immer nach Sommer, aber der Himmel ist launisch, er hat Wolken hervorgezaubert, so weich wie die Zuckerwatte, auf der sie zu gehen scheint, doch von Süße keine Spur. Ihre Watte hat Kanten, verrinnt zum Nebel, und hinter ihrer Sonnenbrille wird ihr Blick trüb, als sie ferngesteuert über die Straße läuft und im Abgasdunst das Wasser sucht, das nach ihr ruft und irgendwo im Verborgenen liegt. Bremsen, Motoren, Autotüren, Stimmengewirr, Stimmen im Kopf, die Geräusche führen sie wie ein Blindenhund über die Straße.

Die Treppe nach unten ist mit Efeu bewachsen, das Geländer steht rostig und schief. Die Stufen enden in Kies, in den Ritzen des alten Steines ist dunkelgrünes Moos, das seine Flechten zieht. In der Ferne weint ein Kind. Es riecht nach Abend und frisch gemähtem Gras, das schon modert, weil es zu früh für laue Sommerabende und zu spät für alles andere ist.

Ein Schritt nach dem anderen, lautlos, zögerlich, kleine Steinchen knirschen unter ihren Schuhen. Der Fluss liegt vor ihr, still und glatt, es ist windstill, deshalb bleiben die Wellen unsichtbar. Sie hockt sich nieder, spürt das Gras zwischen ihren Fingern, das wie Sand verrinnt und grüne Spuren hinterlässt. Sie verharrt im Blick auf das Wasser, sucht ihr Gesicht, entdeckt nur weiche Bruchstücke, die verschwimmen, hat ihre Kanten verloren.

Als Emma fort geht, ist der Himmel grau. Es riecht nach Herbst und nach einer Schwere, die leicht zu ertragen ist. Die Dämmerung greift nach ihr mit kühlen Fingern, tastet nach ihrem Herz, hüllt es ein. Links oben, wo der Himmel dunkel wird, geht ein Stern auf, und irgendwo schreit wieder vergeblich ein Kind.

Drei mal sieben Komma fünf

In seinem Blick sind tausendundeine kleine Fragen, die er nicht stellt. Seine Augen sind groß und dunkel, immer eine Spur zu weit offen, beinahe so, als hätte er Angst, etwas zu versäumen. Wenn er sich umsieht, gibt es keinen toten Winkel, unter den dichten Wimpern nimmt er alles wahr. Er kann ins Leere gleiten und sich in der Ferne verlieren genauso wie andere Augen fixieren und festhalten. Seine Pupillen können lächeln, so ansteckend, dass man nicht mehr wegsehen will.
Wach, wissbegierig, warm.

Seine Stimme kann tanzen, elegant und stürmisch, auf Zehenspitzen und barfuß an einem Sommertag. Jedes Wort betont er so, als wäre es einzigartig. Jeder Laut, jeder Ton, jede Silbe gleitet vorsichtig über seine Stimmbänder und kommt neugierig hervor. Die Melodie seiner Buchstaben kann man nicht aufschreiben, sie flattert auf und ab, verharrt, zögert, streitet, ruht. Seine Sprache ist voller Märchen und Magie, seine Worte berühren den Punkt, wo Himmel und Erde sich berühren.
Sanft, schwerelos, sehnsüchtig.

In seinem Schweigen versteckt er Geheimnisse, in seinem Lächeln liegt ein Versprechen, das er sich selbst, aber keinem anderen gibt. Manchmal ist es nur der Hauch eines Lächelns, das den Weg nach oben sucht und verharrt, wo es ist; es will innen bleiben. Sein Lachen kann bewegen und berühren, begeistern und betören. Es kann toben und brausen, wie ein Gewitter im Sommer, das einen plötzlich erwischt, es kann beruhigen und bezaubern, wie der Regenbogen, der danach am Himmel steht.
Zart, zärtlich, zugeknöpft.

Samstag, 5. Mai 2007

Gintimitäten

Gintimitaeten13.41 ist eine gute Zeit für Gin Tonic. Der erste Schluck tut sich schwer, verharrt eine Sekunde in der Kehle und zaudert. Er weiß nicht, ob er rein oder raus soll. Erliegt der Schwerkraft und landet. Breitet sich aus. Fühlt sich wohl. Bleibt, wo er ist. Der zweite Schluck wärmt. Auf den dritten Schluck warte ich noch.

Es wird ein langer Tag, von dem ich weiß, dass ich ihn mit nichts füllen werde außer mit Gin und Worten. Beides liegt mir im Magen. Meine Worte sind mein bester Freund und mein ärgster Feind. Ich hadere mit ihnen, den Monologen, den Selbstgesprächen, den Vorwürfen. Es ist ein Tag, an dem ich mit niemandem reden will. Nicht mal mit mir. Es ist ein Tag, den ich verschenke an die Schwerelosigkeit meines Glases und die Ruhelosigkeit meiner Worte.

Gin und wie alles begann.

Damals, als ich neunzehn war, spielte ich mit Kindern Theater. Mit Kindern aus wohlhabenden Familien, die viel zu gut erzogen und schrecklich einsam waren. Sarah war elf und hatte einen viel zu großen Mund und einen von-Nachnamen. In einem Sommer, der viel zu heiß war, radelte ich 20 Kilometer, um sie ihn den Arm zu nehmen, weil sie gerade erfahren hatte, dass ihre Eltern sich scheiden lassen. Vanessa war dreizehn und sagte nie, wie es ihr geht. Sie wirkte immer elegant und gelassen, doch als sie auf der Bühne stand und ihre selbst geschriebenen Worte aus ihr hervorperlten, zeigte sie ihr Herz. „Sperrt mich nur hinter Gitter, schließt vor mir alle Schranken, doch niemals ändert ihr meine Gedanken“ sang sie sehnsüchtig, doch ihre streng aussehende Großmutter verzog keine Miene.

Damals, als ich neunzehn war, stopfte ich mir einen dicken Pullover unter ein Männerhemd, klebte einen Schnurrbart auf und verwandelte mich in Waldemar Duvall. Ein dicker, alter Mann, der in Italien lebte, eine Geliebte namens Georgina Grassi hatte und seine Frau, eine alternde Opern-Diva mit großem Alkoholproblem, verabscheute. Die Schauspiel-Lehrerin, eine zauberhafte Person in zarten Frühlingskleidern, sagte, ich hätte mich herrlich ausgestopft und lobte vor allem meinen dicken Arsch. Ich erzählte ihr nie, dass ich den nicht ausgestopft hatte.

Damals, als ich neunzehn war, sang ich das erste Mal auf einer Bühne, gemeinsam mit meiner immer betrunkenen Frau, einer Vierzehnjährigen mit langen Beinen. Den Text hatten wir gemeinsam geschrieben, ich kenne ihn heute noch, zehn Jahre später, ebenso wie die Melodie, aber die Vierzehnjährige, deren Namen ich vergessen habe, die kenne ich nicht mehr. Wir sangen über Liebe, die vergeht, über Alkohol, der alles zerstört, über Abwesenheit und Einsamkeit, über Chancen und Möglichkeiten. „Du riechst wie eine Flasche Gin, was hat denn das für einen Sinn? Und obendrein bist du noch dumm, zu Kopf steigt dir der viele Rum“, warf ich ihr in glockenhellem Sopran vor, damals, als ich neunzehn war und meine Stimme noch nicht von zu viel Zigaretten rau und dunkel geworden war. Ich sang von Gin, aber wusste nicht, wie er schmeckt, kannte noch nicht seine Schwerelosigkeit. Zehn Jahre später rann der erste Schluck bittersüß meine Kehle runter und mietete sich in mir ein.

Gin und wie alles begann.

Nellas Niemandsland

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